Europa braucht Aufarbeiten seiner Geschichte
Das Zusammenwachsen der Völker Europas wird durch die Last der Geschichte behindert: Deshalb ist es nach der Überzeugung des Linzer Bischofs Manfred Scheuer notwendig, sich den bis heute spürbaren und hinderlichen Folgen der Schuldgeschichte des Kontinents zu stellen. "Es braucht ein gemeinsames Aufarbeiten der Geschichte, Begegnungen über Grenzen hinweg und Eingeständnis von Schuld, um ein gemeinsames Europa der Zukunft zu bauen", betonte Scheuer in der Vorwoche bei einem Besuch in Brüssel, wo er eine Delegation von 41 Personen aus dem Kreis der Diözesanleitung und der Dechanten der Diözese Linz anführte.
Die beiden von Europa angegangenen Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts, die "fast gänzliche Vernichtung" des europäischen Judentums durch die Rassenpolitik des Nationalsozialismus, die Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkrieges und die Ära der kommunistischen Regime seien in ihren Folgen noch immer spürbar, hielt Bischof Scheuer beim Gottesdienst mit der deutschsprachigen Gemeinde Brüssels fest, wie die Diözese Linz am Montag über die Studienfahrt in die EU-Zentrale berichtete. "Vorurteile, Angst, Feindschaft und Hass haben Bevölkerungen und Staaten gespalten", wies Scheuer hin. Gerade die unterschiedliche Entwicklung der europäischen Staaten durch die Trennung Europas in Ost und West sei "noch längst nicht überwunden".
Bischof Scheuer stellte in seiner Predigt die Frage, ob es so etwas wie eine europäische Identität gebe: "Wann haben wir das letzte Mal gesagt: 'Wir Europäer', oder: 'Wir in Europa', oder: 'Meine Heimat ist Europa?' Oder sind wir nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dass wir eine Sympathie- und Schicksalsgemeinschaft, eine Solidargemeinschaft mit den Griechen, den Isländern, den Franzosen und Spaniern, den Polen und Rumänen sind?" Die europäische Einigung und Einheit sei nur zu schaffen, "wenn wir die Vielfalt bewusst zulassen".
Einigungsprozesse erforderten aber auch eine Ausrichtung nach dem aus der Katholischen Soziallehre entspringenden Subsidiaritätsprinzip, betonte der Bischof. Gemeint sei eine entsprechende Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten. "Es gibt Bereiche, die nicht ungestraft zentralisiert werden können", so Scheuer. "Es wäre auf Dauer aber auch fatal, wenn z. B. Ökologie bloß der Beliebigkeit der einzelnen Staaten überlassen würde." Es sei eine "europäische Aufgabe, eine grenzüberschreitende Umweltpolitik zu gestalten". Gleiches gelte für die Bereiche Bildung und Forschung oder Friedenssicherung. Eine Anregung des Bischofs: Europäische Gesetze sollen vor ihrer Verabschiedung auf ihre Sozialverträglichkeit hin getestet werden.
Vielfältiges Besuchsprogramm
Der Linzer Reisegruppe gehörten neben Bischof Scheuer u.a. Generalvikar Severin Lederhilger, Pastoralamtsdirektorin Gabriele Eder-Cakl und die Bischofsvikare Johann Hintermaier und Maximilian Mittendorfer an, weiters Generaldechant Slawomir Dadas, dessen Stellvertreter Helmut Part und 27 Dechanten. Auf dem Programm standen eine Begegnung mit Oberösterreichern, die in Brüssel arbeiten, eine Besuch bei der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union (ComECE), deren Arbeitsfelder Michael Kuhn, Referent der Österreichischen Bischofskonferenz für Europa und die ComECE, erläuterte. "Die Kirche hat etwas beizutragen zur politischen Entwicklung Europas", unterstrich Kuhn. Immer wieder werde in letzter Zeit dabei die päpstliche Enzyklika "Laudato si" als Grundlage verwendet. "Als Kirche können wir eine Plattform bieten, ethische Dimensionen und Hintergründe aufzuzeigen und in Diskussion zu bringen. Die verschiedenen Bereiche der EU sind uns dafür dankbar und fragen vermehrt danach", sagte Kuhn. Kontroverse Themen der EU mit der Kirche seien u.a. der Lebensschutz am Beginn und Ende des menschlichen Lebens sowie der Stellenwert der Religion im Gesamten in den europäischen Gesellschaften.
Die Studienreise umfasste weiters den Austausch mit Vertretern von sozialen und kirchlichen Einrichtungen, die in Brüssel auf europäischer Ebene tätig sind, etwa mit dem Generalsekretär von Caritas Europa, Jorge Nuno Mayer, ein Besuch im EU-Parlament mit Gesprächen mit den Abgeordneten Othmar Karas (ÖVP), Josef Weidenholzer (SPÖ) und Thomas Waitz (Grüne) sowie ein Besuch des "Hauses der Europäischen Geschichte". Bei einer Visite bei der Europäischen Kommission wurden mit Fachleuten Themen wie Agrarpolitik, Soziales, Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik besprochen.
Quelle: kathpress