"Sterbende nehmen mehr wahr als wir annehmen"
Zu einer Sterbebegleitung mit "menschlichen Zügen" hat der Mediziner und Theologe Johannes Huber aufgerufen. Der Wunsch vieler Menschen nach einem Sterben zuhause sei allzu verständlich, da dort "Menschlichkeit oft leichter umzusetzen ist", sagte der frühere Vorsitzende der Bioethikkommission, Uniprofessor und Bestsellerautor beim Kurzsymposium "Zuhause leben bis zuletzt. Möglichkeiten und Grenzen für ein Sterben daheim", mit dem am Montagabend im Wiener Kardinal-König-Haus des 10. Todestages der österreichischen Hospiz-Pionierin Sr. Hildegard Teuschl gedacht wurde. Huber wies vor allem auch darauf hin, dass Sterbende viel mehr wahrnehmen würden, als man gemeinhin annehme.
Er selbst stehe als Gynäkologe und Geburtshelfer eigentlich "auf der anderen Seite des Bettes", stellte Huber einleitend fest, doch: "Wer fragt, woher man kommt, fragt auch: Wohin geht man?" Geburt und Tod stünden einander trotz ihrer zeitlichen Distanz im Lebensverlauf sehr nahe, "und beide müssen unter zutiefst menschlichen Verhältnissen - nämlich im humanen Bereich - ablaufen". Zahlreiche angenommene Parallelen zwischen dem Geborenwerden und Sterben hätten sich in den jüngsten Jahren auch wissenschaftlich bestätigt; teils ließen sich aus dem je einen Bereich sogar Rückschlüsse für den anderen ziehen, führte der Experte aus.
Vergleiche zog Huber zwischen der Hausgeburt und dem Wunsch nach dem Sterben zuhause. "So wie viele Mütter ihr Kind nicht unmittelbar nach der Geburt an Fremde abgeben wollen, soll auch der Sterbende nicht abgegeben und der Einsamkeit übergeben werden." Es komme dabei weniger auf den Ort, wohl aber auf die Umstände und Begleitung durch Bezugspersonen an - "darauf, dass man an der Hand der Mutter in die Welt kommt und auch an einer Hand das Leben verlässt". So wie die Geburt Geborgenheit erfahren lassen soll - man versuche daher, den Notkaiserschnitt möglichst zu verhindern - treffe dies auch beim Tod zu:
Die erste und die letzte Reise eines Menschen sollten ohne Cortisolausschüttung erfolgen; ohne den Stress, den man beim Erleben von Gefahr verspürt.
Heilende Berührung
Der Endokrinologe hob die besondere Bedeutung des Handergreifens und der Berührung hervor, welche im Zeitalter digitaler Diagnostik und der modernen Medizin immer mehr abhanden kämen. "Taktile Reize wie etwa das Streicheln werden über die Hautsensoren sofort dem Gehirn weitergeleitet und bewirken dort eine Ausschüttung der Glückshormone Dopamin und Serotonin. Dabei verändert sich sogar der epigenetische Code eines Menschen." Für Patienten am Lebensende sei Berührung immens wichtig. "Der bekannte Ausspruch von Kardinal Franz König (1905-2004), dass der Mensch 'nicht durch die Hand, sondern an der Hand' die Welt verlassen soll, war prophetisch - auch im Blick auf die spätere Bestätigung durch die Gen- und Gehirnforschung", unterstrich der Mediziner.
Deutlich unterschätzt werde, wie viele Sinneseindrücke Patienten in Agonie und Sterbende noch empfangen könnten, so Huber weiter. "Es trifft längst nicht zu, dass das Gehirn nur in seiner vollen Arbeitstätigkeit Dinge wahrnimmt. Die Natologie zeigt uns, dass ein Kind schon lange vor der Geburt die Stimme der Mutter hört, auch wenn es weder Wörter versteht noch Silben zusammensetzen kann." Früher hätten Mediziner gewitzelt über Schwangere, die ab der 30. Woche mit ihrem Kind sprechen.
Heute wissen wir, dass das wichtig ist. Denn die Stimme trägt das Kind von der Zeit im Mutterleib bis nach der Geburt - wie eine Hängematte, in der es sich geborgen fühlt.
Fühlen nach dem letzten Herzschlag
Auch beim "nicht-mehr-Verstehen" am Lebensende sei noch viel an Wahrnehmungsfähigkeit vorhanden, womöglich weit über den letzten Herzschlag hinaus. "Wir müssen Sterbende so behandeln, als würden sie noch alles mitbekommen, denn wir wissen nicht, wie viel sie noch wahrnehmen", zitierte Huber den deutschen Palliativmediziner Lukas Radbruch. Unter Menschen, die einen mehrminütigen Herzstillstand überlebten, berichten laut Studien neun Prozent von einer Nahtoderfahrung, teils mit einer selbst beobachteten Wiederbelebung. Huber:
Einiges spricht dafür, dass die wirkliche Wahrnehmung erst Minuten nach der Asystolie aufhört. Physiologisch stirbt man ja nicht mit dem letzten Herzschlag, da die einzelnen Organe erst später absterben.
Das Nahtod-Phänomen könne man durch ein "letztes Aufbäumen" erklären, "dass das Ende des Herzschlags die Nervenzellen in einen hochaktiven Zustand versetzt", so der Mediziner, der als Theologe fortfuhr: "Aus Sicht des Glaubens könnte man sagen, dass da eine externe Intelligenz dem Menschen die Freiheit gestattet, für einen Augenblick die Naturgesetze aufzuheben und sonst verbotene Dinge zu tun." Christen sähen den Tod als eine "letzte Zufluchtszone", in der nichts mehr passieren könne.
Er muss keine Totalvernichtung sein, sondern ist vielleicht so etwas wie ein Kostümwechsel oder eine Gütertrennung, bei der ein Teil zurückbleibt und der andere dorthin geht, woher er kam, und bei der die Buchseite nicht verbrannt, sondern womöglich neu und noch schöner geschrieben wird.
Ort des Sterbens wichtig
Aufgabe der Sterbebegleitung sei es, zu möglichst förderlichen Rahmenbedingungen dieses bedeutenden Moments beizutragen und den Herzenswunsch nach Geborgenheit zu erfüllen, so Huber an das Publikum beim Wiener Hospiz-Symposiums. Er riet dabei, es ernst zu nehmen und nicht lange die Gründe dafür zu hinterfragen, wenn Menschen zuhause sterben wollten. Intellektuell sei dieser Wunsch durchaus gerechtfertigt, hätten die Norweger May-Britt und Edvard Moser, Nobelpreisträger für Medizin 2014, gezeigt: "Sie entdeckten, dass unser Gehirn eine Art inneres GPS-System besitzt und Orte - besonders die positiv besetzten - abspeichert. So entsteht eine bestimmte Beziehung zu einem Ort und man kann sich zuhause geborgen fühlen", erklärte der Forscher.
Aufschlüsse über die tatsächlichen Todesorte gibt eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Das Team um Studienleiterin Angela Carollo bestätigte dabei den rückläufigen Anteil der Menschen, die im Spital sterben. In Dänemark - Huber zufolge ist der Trend jedoch in ganz Westeuropa derselbe - sank der Prozentsatz der im Krankenhaus Sterbenden zwischen 1980 und 2014 von 56 auf 44 Prozent bei Männern, sowie bei Frauen von 49 auf 39 Prozent. Dies sei eine positive Entwicklung, werde doch der Tod im Krankenhaus von den meisten Menschen nicht ein "guter Tod" assoziiert, betonte Huber.
Dennoch zeigte die Studie auch Probleme auf: Bei der - demografisch stark wachsenden - Altersgruppe der Über-80-Jährgen stagnierte der Anteil der im Spital Sterbenden, bei den Menschen ab 90 Jahren stieg er sogar. Huber verwies zudem auf ein weiteres Studienergebnis, wonach Personen mit mittlerem und hohem Einkommen eher im Krankenhaus sterben als jene aus der Gruppe mit niedrigem Einkommen. "Ob hier die Zuneigung durch das Geld ersetzt wird? Für Moderne ist dies ein nicht abzuwehrender Gedanke", so der Mediziner.
Quelle: kathpress