mein STAND.PUNKT
Das vielsagende
Schweigen des Papstes
mein STAND.PUNKT
Das vielsagende
Schweigen des Papstes
Ein STAND.PUNKT von Prof. Jan-Heiner Tück
Die Skandalisierungsabsicht liegt auf der Hand. Eine kleine, aber lautstarke Gruppe stellt den Papst neuerdings unter Häresieverdacht und wirft ihm vor, seine Reformen widersprächen "der" kirchlichen Lehrtradition. Mit dieser Beschwörung des Ernstfalls nehmen gegenläufig Unterstützungsbekundungen zu, die Franziskus beherzt verteidigen.
Im Zentrum des Streits steht das apostolische Schreiben "Amoris laetitia" zu Ehe und Familie, das der römische Pontifex im März 2016 veröffentlicht hat. Lebensnah und problemsensibel wirbt er hier für die Ehe zwischen Mann und Frau, spricht über die Schönheit der Liebe, die Herausforderungen der Familie heute, setzt aber auch einen Kontrapunkt gegen die semantische Aufweichung des Ehe- und Familienbegriffs in den spätmodernen Gesellschaften.
Mit einer deutlichen Blickverengung war im Vorfeld fast alle Aufmerksamkeit auf die Frage gelenkt worden, wie Franziskus den Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen regeln würde. Um in "Amoris Laetitia" darauf eine Antwort zu finden, muss man im wahrsten Sinne des Wortes an die Peripherien des Textes gehen: Erst im achten Kapitel, genauer in Anmerkung 351, gesteht Franziskus für komplexe Einzelfälle unter bestimmten Bedingungen zu, was seine Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI. noch ausgeschlossen haben: dass nämlich Katholiken, die geschieden sind und in einer zivilen Zweitehe leben, zu den Sakramenten hinzutreten können. Manche fragen: Ist jetzt erlaubt, was vorher verboten war?
Das Schreiben "Amoris laetitia" leitet einen Perspektivwechsel ein, indem es, ohne die Lehre anzutasten, von der Komplexität des Lebens ausgeht und nach pastoral gangbaren Lösungen für Menschen in schwierigen Situationen sucht.
Das Problem ist nicht neu. Schon seit Jahrzehnten wird in der katholischen Kirche darum gerungen, ohne dass es zu rundum befriedigenden Lösungen gekommen wäre. Um die anhaltende Kluft zwischen Lehre und Leben zu verringern, hat Papst Franziskus zunächst die Ortskirchen über Fragebögen zur Lage von Ehe und Familie heute konsultiert und dann zwei Bischofssynoden zum Thema abgehalten. Als Ergebnis dieses langwierigen und durchaus auch konflikträchtigen Beratungsprozesses darf sein Schreiben "Amoris laetitia" verstanden werden. Dieses leitet einen Perspektivwechsel ein, indem es, ohne die Lehre anzutasten, von der Komplexität des Lebens ausgeht und nach pastoral gangbaren Lösungen für Menschen in schwierigen Situationen sucht.
Nach Veröffentlichung des Schreibens hatten zuerst im November 2016 die vier Kardinäle Walter Brandmüller, Raymond Burke, Carlo Caffarra und Joachim Meisner öffentlich "Bedenken" angemeldet und vom römischen Pontifex Klarstellungen gefordert. Die Purpurträger, bislang als papsttreu bekannt, rechtfertigten ihr subversives Vorgehen durch den Hinweis, Franziskus habe sie weder in einer Audienz empfangen noch brieflich auf ihre "Dubia" geantwortet. Offensichtlich hat der Papst, der ansonsten entschieden für mehr Freimut in der kirchlichen Kommunikationskultur eintritt, ihren Vorstoß als Akt kardinalen Ungehorsams missbilligt. Das Quartett der Kardinäle, von denen zwei inzwischen verstorben sind, ist nun von einem ganzen Chor weiterer Stellungnahmen flankiert worden.
Aus der Polyphonie des Unbehagens ragt ein Mahnschreiben heraus, das im Juli 2017 von einer internationalen Gruppe von Philosophen und Theologen lanciert und auch von Martin Mosebach, dem Autor der Streitschrift "Häresie der Formlosigkeit", unterzeichnet wurde. Das Mahnschreiben trägt den Titel "Kindliche Zurechtweisung wegen Verbreitung von Häresien". Das klingt kurios, spielt aber präzise auf die mittelalterliche Praxis an, einen Papst offen mit Häresievorwürfen zu be-legen. Berühmt ist der Fall von Johannes XXII. (1249-1334), der in Predigten problematische Thesen über das postmortale Geschick der Heiligen vortrug und damit den Einspruch renommierter Theologen provozierte. Papst Johannes hat seine Thesen auf dem Sterbebett widerrufen. Die Erwartung der jüngsten "Zurechtweisung", dass auch Franziskus seine Aussagen revidieren werde, dürfte sich allerdings nicht erfüllen, zumal der Papst, der gerne spricht, in dieser Angelegenheit bislang schweigt. Seit Anfang Oktober stärkt ihm ein offener Brief "Pro Pope Francis" den Rücken, der von Paul Zulehner und Tomáš Halík angestoßen und inzwi-schen von über 54.000 reformoffenen Katholiken unterzeichnet wurde – darunter prominente Politiker und der kanadische Philosoph Charles Taylor.
Die Erwartung der jüngsten "Zurechtweisung", dass auch Franziskus seine Aussagen revidieren werde, dürfte sich allerdings nicht erfüllen, zumal der Papst, der gerne spricht, in dieser Angelegenheit bislang schweigt.
Die Sache selbst ist nicht ganz so einfach, wie es die polarisierungsträchtige Gegenüberstellung – progressive Reformer hier, traditionalistische Verweigerer dort – nahelegt. Es geht um eine theologische Neubewertung der Situation von Gläubigen, die sich in sogenannten "irregulären" Lebenslagen befinden. Franziskus lehnt einen Rigorismus ab, der Zweitehen zwischen Getauften generell als "fortgesetzten Ehebruch" betrachtet und die Betroffenen von den Sakramenten ausschließt. Er entspricht aber auch nicht der Erwartung derer, die eine unterschiedslose Freigabe der Sakramente für alle fordern und das spätmoderne "anything goes" der Lebensformen auch in der Kirche etablieren wollen.
Doktrinäre Kaltherzigkeit und liberale Gleichgültigkeit sind keine guten Ratgeber, wenn Menschen in schwierigen Lebenslagen geholfen werden soll. Das aber ist das entschiedene Anliegen von Papst Franziskus, der die Kirche oft und gerne als "Feldlazarett" bezeichnet und unter dem Vorzeichen der Barmherzigkeit schon länger eine pastorale Praxis fordert, die hilft und heilt, statt verurteilt und ausgrenzt.
Das führt nun zu einem neuen Lehrstil. Der Papst entscheidet in der Frage des Umgangs mit wiederverheiratet Geschiedenen, keine generelle Entscheidung zu treffen. Er macht von seiner Definitionshoheit Gebrauch, indem er auf eine Definition verzichtet. Durch diesen Verzicht auf lehrhafte Regulierung schafft er eine Leerstelle, die einen Weg der Unterscheidung und Begleitung anstoßen möchte, der die Betroffenen neu in die Kirche hineinzuführen soll.
Der Bergoglio-Papst hält ausdrücklich an der Einheit und Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe fest und will die Symbolsprache der Bibel nicht verdunkeln. Das sind deutliche Kontinuitätssignale, die man nicht überlesen sollte.
Dem Verdacht seiner Kritiker, er verlasse dadurch die Bahnen der bisherigen Lehrtradition, darf entgegengehalten werden, dass auch Franziskus eine Kultur des Provisorischen bemängelt und für verbindliche Lebensformen eintritt. Der Bergoglio-Papst hält ausdrücklich an der Einheit und Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe fest und will die Symbolsprache der Bibel nicht verdunkeln, nach der die eheliche Lebensgemeinschaft von Mann und Frau ein Bild für den Bund zwischen Christus und der Kirche ist. Das sind deutliche Kontinuitätssignale, die man nicht überlesen sollte.
Dennoch sieht Franziskus für komplexe Einzelfälle – etwa für schuldlos Verlassene, die in einer zweiten Verbindung leben, ohne dass ihre erste Ehe kirchenrechtlich annulliert worden wäre – Spielräume, die seine Vorgänger auf der Cathedra Petri so nicht zugestanden haben. Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die ihrerseits um einen sensiblen Umgang gerungen haben, sahen sich nicht in der Lage, Gläubige in einer zweiten Ehe zu den Sakramenten zuzulassen, es sei denn unter dem Vorbehalt der sexuellen Enthaltsamkeit.
Franziskus lehrt nun nicht einfach das Gegenteil, sondern lädt die Betroffenen ein, sich den dunklen Seiten ihrer Vergangenheit im Licht der Barmherzigkeit Gottes zu stellen und diese selbstkritisch aufzuarbeiten. Sie sollen sich fragen, was mit den Kindern ist, die möglicherweise aus ihrer gescheiterten Ehe hervorgegangen sind; wie es um die Aussöhnung mit dem ehemaligen Partner steht; welche Folgewirkungen die Trennung in der Familie, in Kirche und Gesellschaft hat usw.
Am Ende dieses Weges, der durch einen qualifizierten Seelsorger begleitet werden soll, steht die unvertretbare Gewissensentscheidung der Person selbst, die ihr niemand abnehmen kann, nicht einmal der Papst. Ob die neuen Lebensverhältnisse jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche entsprechen können, welchen die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht, das ist die Frage, die im "Forum internum" entschieden werden soll. Die einen werden zögern, zur Kommunion hinzutreten, weil ihnen bewusst ist, was sie vom Heiligen trennt. Andere werden gerade um der Sehnsucht nach Heilung willen die Nähe des Heiligen suchen. Für sie macht Franziskus "mildernde Umstände" geltend und stellt in der umstrittenen Fußnote – durchaus behutsam und im Konjunktiv formuliert – eine Wiederzulassung zu den Sakramenten in Aussicht. Das ist die Fortschreibung von "Amoris Laetitia", die im Zusammenhang einer therapeutischen Sicht der Sakramente entfaltet wird, nach der die Beichte keine "Folterkammer" und die Eucharistie keine "Belohnung für Vollkommene", sondern "Heilmittel" ist.
Lässt man die aufgebrachte Rhetorik beiseite, wird als theologische Aufgabe sichtbar, deutlicher aufzuzeigen, dass es sich bei "Amoris Laetitia" um eine legitime Fortschreibung der bisherigen Lehre – und nicht um einen Traditionsbruch handelt.
Manche Kritiker wittern darin den Türöffner für eine weitergehende Liberalisierung, andere vermissen die theologische Konsistenz, weil sie nicht anerkennen, dass es Lebenslagen geben kann, die sich nicht als Fall unter ein Gesetz oder eine Doktrin subsumieren lassen. Die Scharfmacher aber gerieren sich wie Bulldoggen der Orthodoxie, wenn sie Franziskus unter Häresieverdacht stellen, als käme ihnen die Definitionshoheit zu, über die mangelnde Rechtgläubigkeit eines Papstes zu befinden.
Lässt man die aufgebrachte Rhetorik beiseite, wird als theologische Aufgabe sichtbar, deutlicher aufzuzeigen, dass es sich bei "Amoris Laetitia" um eine legitime Fortschreibung der bisherigen Lehre – und nicht um einen Traditionsbruch handelt. Die Tradition ist überdies vielschichtiger als es ihre Verteidiger wahrhaben wollen. Sie hält Ansatzpunkte für eine elastischere Seelsorge bereit, die bei den Verwundungen des Lebens ansetzt.
Tatsächlich konnte auf der zweiten Synode unter den Bischöfen in der Frage des Umgangs mit wiederverheiratet Geschiedenen keine letzte Einigkeit erzielt werden. Franziskus hat daher am Schluss der Beratungen betont, dass er selbst den synodalen Gesprächsprozess bündeln und verbindliche Leitlinien vorlegen werde. Als erster Nachkonzilspapst hat er in diesem Zusammenhang an die einschlägigen Dogmen von 1870 erinnert, die dem Papst als Nachfolger des Apostel Petrus die volle und höchste Entscheidungsgewalt in der Kirche zusprechen. Franziskus wird das postsynodale Schreiben "Amoris laetitia" daher als sein letztes Wort in der Sache verstehen.
Wenn sich die 'heilsame Dezentralisierung' nicht zu einer Pathologie schismatischer Zustände auswachsen soll, müsste der Papst noch einmal das Wort ergreifen, mit seinen Kritikern reden und die Spielräume verteidigen, die er zur Implementierung einer situationsbezogenen und einzelfallgerechten Praxis der Barmherzigkeit nutzen will.
Allerdings versteht sich ein Text nicht von selbst – auch ein päpstliches Dokument nicht. So gibt es weiter Interpretationsbedarf. Das lässt sich neuerdings an problematischen Folgeentwicklungen ablesen, die in der theologischen Öffentlichkeit noch kaum angemessen registriert, geschweige denn bearbeitet worden sind. Franziskus hat es den regionalen Bischofskonferenzen überlassen, konkrete Ausführungsbestimmungen vorzulegen, wie "Amoris Laetitia" in der Praxis der Ortskirchen umgesetzt werden soll. Und hier zeigt sich, dass die pontifikale Leerstelle von "Amoris Laetita" unterschiedlich besetzt wird. In Polen bleibt generell verboten, was in Malta als Ausnahme zugestanden wird, Belgien befürwortet, was die Niederlande ausschließt. Feine Risse zeichnen sich ab, die in the long run die Einheit der katholischen Weltkirche gefährden könnten.
Wenn sich die "heilsame Dezentralisierung", die den jeweiligen Ortskirchen mehr Gestaltungsmöglichkeiten bei der Inkulturation des Evangeliums geben will, nicht zu einer Pathologie schismatischer Zustände auswachsen soll, müsste der Papst noch einmal das Wort ergreifen, mit seinen Kritikern reden und die Spielräume verteidigen, die er zur Implementierung einer situationsbezogenen und einzelfallgerechten Praxis der Barmherzigkeit nutzen will. Schweigen kann für einen Brückenbauer nicht die letzte Antwort sein.
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Der Text erscheint außerdem in einer gekürzten Fassung in der "Neuen Zürcher Zeitung" am 18. November
|