IS-Terror: Keine Verknüpfung mit Flüchtlingskrise
Vor einer kurzschlüssigen Verknüpfung der Terror-Anschläge von Paris mit der Flüchtlingskrise und einer damit einhergehenden Instrumentalisierung des Terrors hat der Theologe und Politik-Philosoph Jürgen Manemann gewarnt. "Unsere Reaktion auf die Anschläge darf nicht in einer 'Kriegsrhetorik' bestehen und darin, die Flüchtlingspolitik rigider zu gestalten", so Manemann im "Kathpress"-Interview - denn letztlich würden die IS-Jihadisten genau dies bezwecken: "Sie wollen die europäischen Gesellschaften spalten und verunsichern." Dagegen sollte Europa "souverän zu seinen Werten einer offenen Gesellschaft stehen und Flüchtlinge weiterhin offen willkommen heißen". Dies sei langfristig "das beste Mittel gegen den IS", so der Leiter des Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover.
Zugleich warnt Manemann davor, den Jihadismus als Phänomen "von außerhalb", aus dem Nahen Osten zu betrachten: "Jihadismus wird nicht importiert, er gedeiht in der Mitte unserer Gesellschaft, dort, wo wir konfrontiert sind mit sozialen Pathologien, wo Menschen Orientierungslosigkeit existenziell erfahren, wo sie ihren Halt verlieren." Nur so lasse sich erklären, warum so viele junge Europäer - über 700 allein aus Deutschland - sich den IS-Jihadisten angeschlossen haben.
Übliche Erklärungsformen wie etwa der Verweis auf den Islam bzw. die religiöse Aufladung des Phänomens griffen zu kurz. Vielmehr würden die Biografien gerade der Konvertiten unter den IS-Kämpfern zeigen, dass sie aus Milieus stammen, in denen kaum Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe bestehen, in denen dauerhafte Benachteiligung besteht und sie sich nicht in der Lage sehen, ihre Situation selbstständig zu verbessern: "Viele Jihadisten haben Diskriminierungserfahrungen gemacht. Das heißt, wir müssen uns intensiver mit Rassismusfragen befassen. Und ganz entscheidend scheint mir zu sein, dass Jihadisten unfähig sind, eine Identität auszubilden, die in einem Mitgefühl für andere Menschen gründet." Dies sei letztlich auch der Hintergrund der extremen Gewalt, die dem Jihadismus entspringt - eine Gewalt, wie man sie in dieser Form nur aus faschistischen Systemen kennt, so Manemann, weshalb er den Jihadismus auch als "faschistisches Syndrom" kennzeichnet.
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Zweifelhaft sei laut Manemann angesichts der starken Fixierung auf die Gewalt, dass der IS als politisches Projekt tatsächlich dauerhaft bestehen kann: "Die Organisationsstrukturen, die geschaffen werden, haben nichts mit einem Staat in unserem Verständnis zu tun, sie zielen vielmehr darauf, die Mobilisierung und den Kampf auf Dauer zu stellen. Die Frage ist tatsächlich: Kann ein solcher Staat überhaupt überdauern, wenn er allein auf einer Kultur des Kampfes basiert?"
"Eine neue Form der Religion"
Als überbewertet betrachtet der Theologe in diesem Zusammenhang die Frage nach der Religion - diese sei beim Jihadismus eher "sekundär": "Jihadismus kann man nicht ohne Islam verstehen, aber der Islam ist nicht die primäre Motivationsressource." Die Europäer, die in den Jihad gezogen sind, seien zumeist Konvertiten, die sich vorher gar nicht mit Religion befasst haben: "Das heißt, ich würde hier von einer sekundären Religiosität sprechen, aber nicht von einer primären. Mehr noch: Diese Religiosität ist so weit von den Quellen des Islam entfernt, dass man es als eigene, als neue Form der Religion bezeichnen kann."
Dass viele IS-Terroristen gerade aus Frankreich kommen, sei kein Zufall, so Manemann weiter. Dies hänge vielmehr auch mit dem französischen Laizismus zusammen, der religiöse und kulturelle Kommunikationsformen nahezu verunmögliche: "Andere Gesellschaften geben mehr die Möglichkeit, dass auch religiöse Stimmen gehört werden in der politischen Öffentlichkeit, sodass mehr Menschen den Eindruck haben: Ich kann zumindest sagen, was mir am Herzen liegt, während in Frankreich dieses erheblich schwerer und teilweise unmöglich ist."
Strategien gegen den Terror
Was bleibt also zu tun? Laut Manemann braucht es eine doppelte Strategie: ein rasches militärisches Handeln vor Ort gegen den IS, und eine langfristige Strategie, um dem IS und der "Faszination Jihad" unter europäischen Jugendlichen den Boden zu entziehen. Eine solche "kulturelle Strategie" müsse darin bestehen, in den europäischen Gesellschaften neu Fragen des Gemeinwohls und der politischen Teilhabe von Menschen am Rand der Gesellschaft zu thematisieren: "Junge Menschen müssen die Erfahrung machen, dass das Leben in dieser Gesellschaft nicht bloß so vonstatten geht, als ob man auf einer Rolltreppe steht, auf der es automatisch weitergeht, egal ob man etwas tut oder nicht tut, sondern dass man in der Lage ist, auf die Umwelt Einfluss zu nehmen."
Auch dürfe sich Europa nicht vor einer Debatte über die eigenen Werte scheuen. Werte allerdings, die nicht nur gepredigt werden dürfen, sondern die stets mit Erfahrung einhergehen müssen, wenn sie wirklich tragfähig sein wollen: "Wir machen vermutlich den Fehler, dass wir zu viel Werte predigen und zu wenig Werte leben."
Manemann hat zuletzt ein Buch zu dem Thema vorgelegt: "Der Dschihad und der Nihilismus des Westens. Warum ziehen junge Europäer in den Krieg?", erschienen im "transcript"-Verlag.
Quelle: Kathpress